JJ: Eine Fallstudie der österreichischen Seele

Die Welt könnte so schön sein: Ein sympathischer Künstler, der dank Talent und internationaler Erfahrung den Eurovision Song Contest für sein Heimatland gewonnen hat. Es könnte so schön sein, wenn nicht – frei angelehnt an den ehemaligen Bundeskanzler Fred Sinowatz – alles sehr kompliziert wäre. Denn trotz der für sein Alter differenzierten Entwicklung, machte der junge Countertenor aufgrund einer unbedachten Aussage überraschend schnell Bekanntschaft mit der österreichischen Seele.
Diese behandelte der Psychiater Erwin Ringel in seinem 1984 erschienen, viel beachteten Werk „Die österreichische Seele“. Eine der vielen Spielarten wurde in Bezug zur Ära Waldheim, verbunden mit dem Aufstieg von Jörg Haider und der FPÖ, sichtbar. Sinowatz bearbeitete infolgedessen einen wunden Punkt im kollektiven Gedächtnis der Österreicher – nämlich Waldheims Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg – mit der trockenen Feststellung: „Wir nehmen zur Kenntnis, dass er nicht bei der SA war, sondern nur sein Pferd.“

Daniel Witzeling.
Zentrale Neurose
Die Bandbreite der österreichischen Seele reicht vom Radfahrer-Prinzip des aggressiven Untertanen, der nach oben buckelt und nach unten tritt bis hin zu Freuds Neurosenlehre. Die zentrale neurotische Störung ist laut Ringel eine Mischung aus Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen, die unter anderem darin begründet ist, dass aus dem einstigen habsburgischen Vielvölkerstaat eine territorial eher kleine Alpenrepublik geworden ist. Der Wechsel zwischen oben genannten Zuständen kann sogar relativ ansatzlos eintreten.
Johannes Pietsch alias JJ ist mit seiner Aussagen über Israel und den Gaza-Krieg – ohne es im politischen Wirkungsbereich antizipieren zu können – in ein Fettnäpfchen der beschriebenen Seelenlandschaft getreten. Ein Paradebeispiel dafür, wie so hochgehaltene Grundsätze wie Toleranz und Weltoffenheit schnell mit in der Hierarchie noch höher angesiedelten Werten kollidieren können und auf diese Weise zu einer immensen Irritation führen. Der Song-Contest-Gewinner wurde somit in Lichtgeschwindigkeit vom Hero zur Zero der sozialen Erwünschtheit.
Alles wäre paletti gewesen, hätte der junge Sänger sein Herz nicht auf der Zunge getragen. Dank ebendieser kreativen Ader regiert die Emotion stärker vor der Kognition. Aber selbst die nach Thomas Bernhard als „Geistesmenschen“ Titulierten werden mehr durch die Emotion reguliert als es ihnen bewusst und lieb ist.
Anpassung als Goldstandard
Grundsätzlich dringend nötig in einer Gesellschaft, in welcher Anpassung auf allen Ebenen zum Goldstandard geworden ist. Für die Überbringer der Botschaft allerdings mehr als unangenehm, da die getriggerten Gefühle der anderen oft zum Bumerang werden.
Was lernen wir nun? Provokant formuliert hat sich an Ringels Thesen selbst mehr als vierzig Jahre später nicht viel geändert. Lediglich die Tatsache, dass wir mehr Energie in unserem Neocortex bündeln, der versucht, andere mit Trieben verbundene Hirnareale zu kontrollieren, um uns sozial erwünscht zu gebaren, ist neu.
Was in der Kunst gewünscht und (über-)lebensnotwendig ist, ist auf dem Gebiet des filigranen sozialen- und politischen Miteinanders oft gefährlich.
Zum Autor:
Daniel Witzeling ist Psychologe, Sozialforscher und Leiter des Humaninstituts Vienna.
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