Ralf Rangnick ist hungrig. Nach Erfolgen einerseits, aber beim Treffen mit dem KURIER im BioArt Campus am Obertrumer See auch im wörtlichen Sinne. Er bestellt einen Flammkuchen „Klassik“ mit Crème fraîche, Speck, Zwiebeln und Schnittlauch. Dazu einen Johannisbeersaft, gespritzt auf einen halben Liter. Statt halben Sachen gab’s dann Teamchef pur.
KURIER: Sie wollen Österreich erstmals seit 28 Jahren zu einer Weltmeisterschaft führen. Was war Ihr erster persönlicher WM-Moment?
Ralf Rangnick: Ich wurde am Tag des WM-Finales von 1958 geboren. Das weiß ich so genau, weil meine Mutter bei uns die Fußballinteressierte war. Mein Vater hatte mit Fußball nichts am Hut. Damals, 1958, hatte ja nur jeder Zweihundertste einen Fernseher. Da musstest du gucken: Wer hat einen? Und: Darf ich da mitschauen? Und meine Mutter hat bis zum Halbfinale fast alle Spiele gesehen, nur das Finale nicht, weil ich auf die Welt kam als Hausgeburt. Das war Brasilien gegen Schweden, die erste WM von Pelé als 17-Jähriger.
Wann war klar, dass Fußball Lebensinhalt werden würde?
Glaubt man meinen Eltern, war das wohl genetisch vorbestimmt. Als ich begann zu laufen und das erste Mal ein Ball vor mir lag, habe ich mich nicht gebückt und ihn aufgehoben, wie es die meisten Kinder tun, sondern ich habe gleich mit dem Fuß gegen den Ball getreten. Mein Vater meinte, wahrscheinlich war er zu faul, um sich zu bücken, aber das glaube ich eher nicht. Ich habe dann ja Tag und Nacht gespielt.
Wo denn?
Da, wo wir gewohnt haben, war eine unbenutzte Wiese. Das war unser Platz. Wir hatten leider keine Tore.
Sondern?
Irgendwann sind mein Vater und ich mit den Fahrrädern zu einer Schreinerei gefahren. Dort haben wir Pfosten und Latten zuschneiden lassen. Die haben wir an unseren Fahrrädern festgezurrt und sind gefahren. Wir haben uns Beton besorgt, Löcher gegraben und die Pfosten einbetoniert. Oben haben wir mit Winkeleisen Pfosten und Latte miteinander verbunden. Irgendwann standen die Tore, was fehlte noch?
Die Netze.
Genau. Dann haben wir im Baumarkt Schrauben gekauft, haben die rein gedreht und uns Tornetze machen lassen. Dann waren da zwei richtige Tore und wir haben täglich gespielt, bis es dunkel war. Eine grandiose Zeit.
Stehen die Tore noch?
Nein, irgendwann waren sie umgesägt. Vandalismus. Wir wussten nicht, wer es war. Da war ich schon 17, da war es dann nicht mehr so schlimm, aber wir haben trotzdem getrauert.
Heute sind Sie Trainer und in erster Linie Menschenführer. Wie lauten Ihre Grundsätze?
Das Zitat von Theodore Roosevelt, „They don't care how much you know, until they know how much you care“, war immer und ist auch heute noch mein absoluter Grundsatz. Wir Trainer sind Dienstleister für die Spieler. Aber ich habe selbst so viele Trainer erlebt, die sich nicht um Spieler gekümmert haben, die verletzt waren. Das fand ich furchtbar, deshalb mache ich es anders.
Und wie?
Etwa bei David Alaba oder Sasa Kalajdzic – wir telefonieren alle vier Wochen. Als Marko Arnautovic immer wieder Muskelverletzungen hatte, bin ich extra nach Mailand gefahren mit unserem Ernährungsberater und dem Athletiktrainer. Die Spieler wissen das zu schätzen, wenn du sie als Individuen wahrnimmst und dich auch dann für sie interessierst, wenn sie gerade Probleme haben.
Haben Sie Grundsätze, was Lob und Kritik betrifft?
Kritik darf sich nie gegen den Menschen richten, sondern immer nur um die Sache und das, was auf dem Platz passiert. Das ist nicht immer einfach voneinander zu trennen, aber es geht. Wenn die Spieler merken, dass du keinen Sündenbock suchst, sondern versuchst, ihn besser zu machen, akzeptieren sie es. Auch bei der Videoanalyse.
Fühlen sich Spieler dabei manchmal bloßgestellt?
Bei uns sind es zu 60 bis 70 Prozent positive Szenen, durch die wir den Spieler bestärken wollen. 30 bis 40 Prozent sind Szenen, wo ich ihm zeige: „Schau mal, da hast du kurz davor abgestoppt, mach doch den letzten Schritt.“ So akzeptiert er es, weil er merkt: Der Trainer beschäftigt sich mit mir.
Sie haben Lehramt fertig studiert, aber nie als Lehrer gearbeitet. Würden Sie das gerne nachholen, vielleicht für einen Tag?
Es gab ja vor acht Wochen den österreichischen Vorlesetag. Da hat das Kulturministerium gefragt, ob ich mitmachen würde. Ich habe gesagt, wenn ich das mache, dann hier, wo ich wohne. Dann habe ich in Obertrum in der Grundschule vorgelesen.
Vor wie vielen Schülern?
In etwa 200. Das war auch so ein Erlebnis, wo ich gesagt habe: Wow, wie schön war das? Zwei Tage später habe ich mit der Schulleiterin neue Pläne geschmiedet.
Und welche?
Wir wollen ein Zwei-Generationen-Projekt ins Leben rufen, wo wir Grundschulkinder und Senioren zusammenbringen. Vor allem die, die zu Hause gerade gar keine Oma und keinen Opa mehr haben. Und Senioren, die gerne eine Aufgabe hätten. Die eine Geschichte zu erzählen haben, aber die vielleicht auch keine Enkelkinder haben, aus welchen Gründen auch immer. Da sind wir gerade dabei, deshalb lese ich im Juni nochmal in zwei Grundschulen in Seeham und Seekirchen. Da laden wir auch Senioren ein. Zwei Wochen später gibt es eine Schnitzeljagd für Senioren und Kinder. Ich freue mich riesig darauf.
Wie schöpfen Sie Energie für all die Dinge, die Sie tun?
Grundsätzlich bin ich ein Mensch, der genug Energie hat. Wenn du dein Hobby zum Beruf machen kannst, dann ist es ein Privileg. Klar, der Fußballtrainerjob zählt weltweit zu den stressigsten Berufen. Ich würde aber auch als Trainer arbeiten, wenn es kein Geld dafür gäbe. Und wenn ich überlege, was wir noch alles tun, was – ich zitiere jetzt mal andere Leute – nicht zum Kernkompetenzbereich eines Teamchefs zählt, etwa Trainings mit 10- bis 13-Jährigen. Aber ich mache es gerne, weil es Dinge sind, die mir Spaß machen. Auch der Einsatz für den Bau einer Event-Arena.
Ein emotionales Thema.
Klar, ich meine, um wie viel attraktiver wäre dieses Land und diese Stadt, wenn es so ein Wembley von Wien gäbe? Ich könnte aber auch sagen: Ist doch mir egal, ich bin Piefke, die sollen machen, was sie wollen. Didi Mateschitz hätte gesagt: „Ich kann sie nicht zwangsbeglücken.“ Aber ich weiß, welchen Boom so eine Arena auslösen würde – in allen Bereichen. Das würde Wien noch mal so viel sexyer machen. In Deutschland hat jede mittelgroße Stadt so eine Arena, jede. Stell dir mal vor, was du da alles machen könntest.
Sie verwenden bewusst den Terminus „Event-Arena“?
Ja, mit einem verschließbaren Dach kannst du da drin Dancing Stars machen oder ein Handballspiel wie einst in Düsseldorf mit 50.000 Fans. Du kannst Eishockey da drin spielen, du kannst die Sängerknaben drin singen lassen und den Song Contest veranstalten. Mit 60.000, grandios! Konzerte zu jeder Jahreszeit. Es gibt nichts, was du da nicht machen kannst.
Sie bleiben also am Drücker?
Klar, in solchen Fällen merke ich immer wieder: Ich kann nicht sagen: Lass es! Ich sehe einfach, dass es tausend Gründe gibt, die dafür sprechen und eigentlich keinen einzigen, der dagegen spricht.
Auch nicht die finanzielle Situation im Land?
Das ist die letzte Hürde, die es zu erklimmen gilt. Wenn alle sagen würden, wir wollen das, finde ich den Investor in drei bis sechs Monaten. Nicht ich alleine, aber mit meinem Netzwerk. Ich bin überzeugt, dass es gelingen würde, diese Arena jemandem schmackhaft zu machen. Aber wissen Sie, was mich stört?
Verraten Sie’s!
Dass es schon von Haus aus heißt: „Das wollen wir nicht, das geht nicht, das können wir nicht bezahlen.“ Ich kann mich einfach nicht mit einem Nein abfinden, wenn ich zu 100 Prozent von einem Ja überzeugt bin, da tue ich mir auch mit 66 noch schwer.
Von der Frage, woraus Sie Kraft tranken, sind wir bei einem Thema angelangt, wo Sie viel Kraft hineinlegen.
Ehrlich: Ich brauch’ gar keine Kraft tanken. Wenn mir Dinge Spaß machen, dann ziehe ich daraus wieder viel mehr Energie.
Gibt es noch andere Dinge, über die Sie sich ärgern?
Wenn ich merke, dass jemand richtig begabt ist oder auch in einem Verein viel mehr möglich wäre und dieses Potenzial dann nicht ausgeschöpft wird.
Wann war das zuletzt der Fall?
Für mich wurde die Zeit bei Manchester United deshalb zach, weil mir nach vier Wochen klar war, dass sie mich damals schon viel dringender als Sportdirektor und Kaderplaner und als derjenige, der alles in die richtigen Bahnen lenkt, gebraucht hätten und nicht als Interimstrainer für sechs Monate. Und alles, was seit meinem Weggang dort passiert ist, bestätigt das. Die haben seither 700 Millionen für neue Spieler ausgegeben und sind schlechter als je zuvor. Da kann ich nur den Kopf schütteln, dieser Verein ist einer der größten, wenn nicht der größte weltweit. Das ist mir eigentlich erst klar geworden, als ich dort war.
Wie denn?
Egal, wo ich hingekommen bin, haben mich die Leute erkannt. Egal wo. Ich war danach ein paar Tage auf Barbados, ich hab’ noch nie so viele Selfies und Unterschriften geben müssen wie auf Barbados. Ich dachte, ich hab’ da für ein paar Tage meine Ruhe. Pfeifendeckel. Der Verein hat überall auf der Welt Fans in Massen. Und eigentlich wäre es so einfach. Zwei Transferfenster, mit Augenmaß, mit einer guten Scouting-Abteilung, mit den richtigen Spielern. Es kann doch nicht sein, dass die 15. in der Liga sind.
„Pfeifendeckel“ kam jetzt nicht überraschend. Aber seit wann sagen Sie denn „zach“?
Ich bin halt schon angekommen in Österreich. Ich finde, was gar nicht geht, ist, wenn Menschen einen Dialekt nachmachen, der nicht der ihre ist. Das ist respektlos gegenüber dem Dialekt und gehört sich nicht. Da kommt der Sprachwissenschaftler wieder mit mir durch. Aber „zach“ gefällt mir, einzelne Worte kann man verwenden. Gibt es noch so eines?
Leiwand.
Leiwand finde ich toll, das ist ein schönes Wort, auch positiv belegt.
Wie leiwand könnte Josef Pröll für den ÖFB werden?
Ich habe einen richtig guten Eindruck gewonnen. Das ist jemand, der genug Distanz hat zu allem, was zuletzt war. Du merkst, dass er Erfahrung hat, sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft. Und was ich mir wünsche, ist, dass er mein letzter Präsident ist, aber nicht, weil ich vor habe, nicht mehr allzu lange da zu sein, sondern weil ich glaube, dass es dem österreichischen Fußball guttäte, wenn er über mehrere Jahre dieses Schiff lenkt.
Sie lenken demnächst das Team durch die WM-Qualifikation gegen Rumänien, Bosnien-Herzegowina, Zypern und San Marino. Für viele ist das eine Pflichtaufgabe. Ist es wirklich so?
Selbstläufer ist es keiner. Dazu sind Bosnien und Rumänien zu gut, das ist keine Laufkundschaft. Aber es ist auch unsere Erwartungshaltung, das zu schaffen. Und dadurch, dass wir selber diesen Anspruch haben, kann der von außen kommende Druck nicht größer sein als das, was wir selber von uns erwarten.
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