Der Künstler starb, bevor die zweite Fassung des 6-Tage-Spiels aufgeführt werden konnte. In Etappen wurde es 2022 und 2023 nachgeholt, nun folgen bis einschließlich Montag die letzten drei Tage. Wer den Schlosshof am Samstag Morgen betritt, wird von einem einzigen Ton begrüßt - den aber ein ganzes Orchester aus etwa 80 Personen spielt. Ein mächtiger Minimalismus. Auf Tischen liegen schon die dinglichen Hauptakteure bereit: Berge von Weintrauben, Erdbeeren, Farbpigmenten, Fleisch, Fisch, Eier, und vieles mehr. Konzentriert sitzen nur die menschlichen Akteure in komplett weißer Kleidung aufgereiht und warten auf die rituelle Fusswaschung. Der Rest der Anwesenden wartet auf Heurigenbänken, labt sich am bereitgestellten Frühstück (Müsli, Käse, Guglhupf und sehr viel Wurst), schon früh merkt man eine fast familiäre Stimmung. So manches Glas ist bereits mit Wein gefüllt.
Buntes Publikum, kobaltblaue Künstlerwitwe
Im Publikum sind junge Kunstaffine mit lustigen Sonnenbrillen oder avantgardistischen Blazern genauso vertreten wie Galeriekundschaft und langjährige Begleiter von Nitschs Oeuvre. Oder, um das Spektrum anders zu formulieren: Auf T-Shirts der Gäste liest man genauso „Künstlerhinrichtung Heldenplatz“ wie „Mir reicht’s, ich geh schaukeln“. Es gibt übrigens auch - das entspricht dem Festivalcharakter - Merchandise-Leiberl vom Orgien Mysterien Theater um ca. 30 Euro zu erwerben. Nicht nur findet sich der eine oder andere Nitsch-Gedächtnisvollbart in Gesichtern, auch ein NItsch-Doppelgänger streift durch den Hof. Wahrscheinlich ist er selbst ein Kunstprojekt. Dazwischen wandelt Rita Nitsch, die Witwe des Künstlers, in Kobaltblau mit Hund ohne Leine. Nun, es ist ja auch sein Zuhause.
Die Musik schwillt an und plötzlich sind auch mehr Töne zu hören, aber gleichzeitig. Der Klang schürt die Erwartung. Die Aktion beginnt mit dem Zermanschen der Objekte auf den Tischen, sie werden mit Blut, Wasser und Eidotter beschüttet und ordentlich malträtiert. Dirigent Andrea Cusumano leitet das Orchester von einem Hochstand aus. Es wird nun unterstützt von Trommeln, Gongs und Kirchenglocken. Es riecht nach Weihrauch und verbranntem Salbei.
Ein Mann wird auf ein Kreuz gebunden, auf seinem Bauch wird ein Schwein angebracht. Wenn er nicht die Augen verbunden hätte, müsste er ihm in den aufgeschnittenen Hintern blicken. Einige Akteure stopfen den offenen Schweinekörper ekstatisch mit Eingeweiden. Das wüste Wühlen ergibt ein eindrucksvolles Bild, es hat etwas von einem Zombiefilm, aber umgekehrt. Was die Untoten entreißen, wird hier - wenn auch unsanft - zurückgegeben.
Noch zwei weitere nackte Akteure werden auf kreuzähnliche Konstruktionen gespannt. Der Frau wird die Scham mit gespreizten Beinen mit einem Tintenfisch bedeckt, der Mann wird mit Blut „gefüttert“. Die Musik schwillt zu einer Art wagnerianischem Auftakt an. Der Gong macht’s dann spannend: Feierlich wird eine weitere gekreuzigte Frau im weißen Kittel zur Südwand des Hofs getragen.
Die anderen Akteure begeben sich in ein großes Becken, da warten schon Trauben, Paradeiser und Fleisch. Während sie das alles manisch mischen, wie toll treten und wild darin wühlen, werden sie mit Blut und weiteren Eingeweiden von außen beworfen und angeschwappt. Es erinnert an das Balgen einer kindlichen Kissenschlacht, aber für Kinder, die sich schmutzig machen dürfen. Tatsächlich ist der Grad der Vehemenz der Beteiligten sehr unterschiedlich, manche steigen nur mit ein paar roten Flecken aus dem Becken. Bei anderen ist vom Weiß der Kleidung nichts mehr zu sehen, und das Gesicht trieft auch vor Blut. Es zeigt sich außerdem: Brillenträger sind klar im Nachteil in dieser Kunst.
Anachronistische Gemächlichkeit
Das Spiel wird geleitet von Nitschs Adoptivsohn Leonhard Kopp und Frank Gassner. Ihre Pfeiferl unterbrechen in fast militärischer Anmutung die sonst anachronistische Gemächlichkeit der Veranstaltung. Erinnern dabei aber daran, dass das Geschehen nach einem ganz präzisen, 1000-seitigen Konzept vor sich geht. Aber nicht nur die Zwanglosigkeit, die diesen Tag auf Schloss Prinzendorf mit seinen vielen Essenspausen prägt, zeigt, dass Nitsch ein gemeinsames Fest der Sinne und keine strenge Kunstmesse im Sinne hatte. Sondern auch kleine Details in der Partitur, wie die Freiheit der Musiker, sich an bestimmten Stellen einen von drei Tönen selbst auszuwählen.
Am Nachmittag noch ein Höhepunkt: Als die Akteurin am Kreuz in einem zelebrierten Schichtwechsel nach mehreren Stunden des Verharrens abgelöst wird, gibt es ein eindrückliches Klangpanorama. Der wummernde Tonteppich, in den sich auch mysteriöses orgelhaftes Klirren mischt, steigert sich in ein Grollen, dem die Natur mit Gewitterwolken einen Verstärker liefert. Der Chor singt wieder nur einen Ton, ein A, das gleichzeitig klagend klingt, aber auch an ätherische Engel erinnern mag. Die Kreuztrage wird währenddessen mit Blumen geschmückt. In einem gewaltigen Crescendo könnte man die Posaunen auch apokalyptisch verstehen. Aber die mächtigen Glockenschläge geben seltsamen Trost. Das Kreuz wird hinausgetragen und die Teilnehmer folgen. In der Mitte des Hofs glaubt man, die eigenen Organe vibrieren zu spüren. Das ist der Moment, in dem sich das Mysterium im Orgien Mysterien Theater erschließt - ohne sich zu erklären. Was es zum perfekten Mysterium macht.
Rituale der katholischen Kirche
Sekunden später, bei der Prozession hinter der Kreuztrage durch die Felder, weicht dieses Gefühl einer Unbeschwertheit, die durch die fidele Blasmusik noch unterstrichen wird. Besonders diese letzten Programmpunkte - inklusive gemeinsames Abendessen, das immer wieder von Regenschauern besprengt wird -, lassen das 6-Tage-Spiel als Zeugnis dafür interpretieren, wie die Rituale der katholischen Kirche die Basis der (ländlichen) Gemeinschaft und Geselligkeit prägen - oder geprägt haben.
Ein schönes Bild für Instagram wäre gewesen, als zwei rotgefärbte Akteurinnen just vor den roten Rosen standen. Es wird auch so in Erinnerung bleiben. Noch ein Fazit: Hungrig bleibt bei dieser Veranstaltung niemand - außer vielleicht Veganer. Und die Dame mit dem „Mir reicht’s“-T-Shirt - die hat ihre Schaukeldrohung auch nicht wahr gemacht.
Das 6-Tage-Spiel dauert noch bis zum Sonnenaufgang des Dienstag.
Am Montag wird Starkoch Max Stiegl einen traditionellen „Sautanz“ - Verwertung eines kompletten Schweines - vollziehen.
www.nitsch-foundation.com
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